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Bildende Kunst Art contemporain - Ausstellung

Le Paravent de Salses

Le Paravent de Salses
Datum Vom 03/01/2014 bis zum 16/02/2014
Besondere Uhrzeiten, Termine und Informationen Geöffnet mittwochs bis sonntags von 14 bis 18 Uhr, geschlossen an Feiertagen und im August.
Führungen und pädagogische Werkstätten sind kostenlos.
Anfahrt
Mit der Straßenbahn: Haltestelle Université (Linien C, E, F)
Mit dem Bus: Haltestelle Cité Administrative (Linien 15 und 30)
Ort CEAAC,
7 rue de l'Abreuvoir, in Strasbourg
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Preise Eintritt frei
Beschreibung
„Jedes Mal, wenn die Welt auf eine etwas andere Art gesagt wird, ob von den Wissenschaften oder den Künsten, verändert sie sich“, schrieb Claude Simon 1980 in einem Brief an seinen Verleger Jérôme Lindon. Dieses Zitat fasst die Leitidee des dreiteiligen Ausstellungszyklus, der seit 2012 im CEAAC stattfindet, sehr gut zusammen. Vielleicht drückt die Literatur die Wirkung, die wir der Kunst zuschreiben, unmittelbarer aus: die Fähigkeit nämlich, nicht nur den Blick auf die Welt (und damit eben uns), sondern die Welt selbst zu verändern. Wenn die Kunst einen Zweifel weckt, so kann die Literatur ihn bestätigen, uns von ihm überzeugen und seine wahre Tragweite rekonstruieren. Andererseits macht sie uns zwangsläufig zum Leser – während wir, allen Lektionen eines Marcel Duchamp zum Trotz, es nicht immer wagen, Betrachter zu sein.

Alle Ausstellungen des Zyklus‘ enthielten ein textuelles Arkanum und setzten visuelle Formen in Resonanz mit einer spezifischen Denkweise, wie sie gemeinhin durch Bücher vermittelt wird. Vielleicht steckte gerade darin der Doppelgänger – das, was wir zu sagen versuchten, war bereits in der Art und Weise enthalten, die wir zum Sagen ausgewählt hatten. Ein Double ist also nicht nur ein Riss, ein Fehlen, eine Kluft, sondern eine Form für sich. Um es noch einmal mit Claude Simon zu sagen: „Ein Buch ist in weiten Teilen immer auch die Idee einer Form.“

Der Titel der Ausstellung Le Paravent de Salses („Der Raumteiler von Salses“) spielt auf den Raumteiler an, den Claude Simon in seinem Haus in den französischen Pyrenäen mit ausgeschnittenen Bildern beklebt hatte. Aufgrund seiner Zerbrechlichkeit konnte er weder hier noch bei einer anderen Veranstaltung zum 100. Geburtstag des Schriftstellers gezeigt werden. Diese letzte Ausstellung des Zyklus‘ übernimmt nicht nur den Namen den fehlendes Objekts, sondern greift auch dessen Widersprüchlichkeit auf (Spaltung und Verdopplung) und setzt sie fort, kündet von seinen Formen – gedruckt und mit Seitenzahlen versehen – und seiner Fähigkeit, Räume hervorzubringen und vielleicht miteinander zu verschmelzen.

Aus Claude Simons Roman Georgica entlehnt die Ausstellung ihre polyphone Struktur und ihre Form (nicht aber das Thema), die welcher der Doppelgänger nur ein Moment in einem weiter gefassten Multiplikationsprozess darstellt. Ebenso wie der Roman, der die Kämpfe dreier Soldaten in verschiedenen Kriegen in einer durchgängigen Erzählung miteinander vereint – und auf Vergils gleichnamige Abhandlung über die Landwirtschaft verweist, denn auch der Krieg bearbeitet die Erde – , werden in dieser Ausstellung absichtlich Perspektiven verschmolzen, Blicke abgelenkt, Möglichkeiten für Erklärungen erst geschaffen und dann systematisch wieder zunichte gemacht.

Genau wie dem Roman, der durch die Vielfalt der ständig wechselnden Erzähler, Figuren, Epochen, Stile und intertextuellen Verweise eine ganz neue Leseerfahrung bietet, gelingt es der Ausstellung – vielleicht noch besser als den beiden vorherigen – , die Lektürepfade durcheinanderzubringen – immer in der Hoffnung, die Vielfalt der Sichtweisen rege den Betrachter auch dazu an, seinen eigenen Ansatz umso mehr zu schätzen.

Die in der Ausstellung Le Paravent de Salses gezeigten Werke wurden unter zwei Aspekten – jedoch ohne jegliche Absicht formeller Einheit – produziert und ausgewählt. Die einen orientieren sich an der kaleidoskopischen Bewegung des Romans (Félicia, Atkinson, Julien Crépieux, Chloé Quenum), die anderen thematisieren die Form des Buches im Allgemeinen und seine hervorragende Eignung zur Wiedergabe von Polyphonie (Jérémie Bonnefous, David Lamelas, Stéphane Le Mercier). Lauris Paulus wiederum will beide Ansätze miteinander verbinden.

Die Künstlerin Chloé Quenum inspiriert sich für ihre Skulpturen bei Gegenständen im öffentlichen Raum, die sie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und ihrer Universalität zutage bringt und die als Vorwand und Basis für Projektionen, Fotografien und andere Spuren ihre versteckte projektive Dimension enthüllen.

Chloé Quenum war Gastkünstlerin beim Prix Ricard 2013 (Kurator: Yann Chataigné), hat in der Kunsthochschule zu Paris (Mai-Juni 2013) ausgestellt und zeigt ihre Werkeaktuell in der Galerie Joseph Tang (Leeway).

Die Werke und Videoinstallationen von Julien Crépieux spielen mit der Wirkung von künstlerischer Selbstreferenz und metonymischen Verschachtelungen in der Aufnahme- und Wiedergabetechnik von Tönen und Videos. Der Künstler potenziert Marshall McLuhans berühmten Sinnspruch „Das Medium ist die Botschaft“, indem er die die sinnbildende Wirkung von verzeichneten Aufnahmen und/oder Wiedergaben über spezifische Geräte ins Extreme treibt.

Félicia Atkinson ist Künstlerin, Experimentalmusikern (auch unter dem Namen „Je suis le Petit Chevalier“) und Mitdirektorin des Verlagshauses Shelter Press. Ihre Installationen aus zerbrechlichen Materialien wie Zeichnungen, Stoffen und Bändern sind bewusst subjektiv gehalten und verweisen insgeheim auf persönliche Erfahrungen und musikalische Referenzen.

Die Werke von Lauris Paulus zeugen von seinen Kenntnissen auf den Gebieten von Kryptologie und Esoterik und erinnern an die Dichtung Stéphane Mallarmés. Mit Symbolen ohne objektive Referenten sowie hermetischen und realitätsbezogenen[4] Zeichen laden seine Werke dazu ein, die Welt zu lesen – ganz in der hermetischen Tradition, welche die Welt als Buch versteht, das man zwar lesen kann, von dem aber heute keiner mehr weiß, nach welchem System es geschrieben wurde.

Der Künstler Jérémie Bonnefous arbeitet mit Buchcovern oder stellt ganze Buchsammlungen aus. Damit verweist er jedoch weniger auf das Erbe von Marcel Duchamps Ready-Mades als auf dessen nordamerikanische Version aus den Siebzigern, die Pictures Generation, die in ihrer künstlerischen Arbeit vorsätzlich Werke anderer Künstler aufgriff. Seine Werke wirken simpel, besitzen paradoxerweise aber eine starke emotionale Ausstrahlung und können, wenn sie auch keine neuen Objekte schaffen wollen, die Wahrnehmung der bereits vorhandenen verändern.

David Lamelas will die verschiedenen Daseinsformen einer einzigen, oft kulturellen Realität in seinen Werken so neutral wie möglich wiedergeben, um das aufzuzeigen, was die literarische Avantgarde der Siebziger mit dem Begriff „Produktionsprozess“ bezeichnete: die Art und Weise, wie ein kulturelles Produkt entsteht.

Die Werke von Stéphane Le Mercier kommen „danach“, situieren sich jedoch nicht in einem beliebigen „Post-“. Während Werke, die dieser Vorsilbe bedürfen, sich als Gegensatz und Ablehnung ihrer Vorgänger verstehen, dokumentiert Stéphane Le Mercier ihre Erschöpfung. Ironisch und distanziert versammeln seine Werke müde Formen (konzeptuelle Kunst, abstrakte Malerei, Publikationen) und schaffen es, deren Sinn mit nur geringen formellen Veränderungen völlig umzuwälzen.

Die Vorführung von Kijû Yoshidas Passion Ardente (Originaltitel: Honô to onna, 1967) beschließt nach Toshio Matsumotos Pfahl in meinem Fleisch und Nagisa Oshimas Die Rückkehr der drei Trunkenbolde den von Mathieu Capel präsentierten Filmzyklus zur japanischen Nouvelle Vague. „Drei Filmemacher, von denen es heißt, sie seien durch ihre Zugehörigkeit zur japanischen Nouvelle Vague miteinander verbunden. Ab 1960 sind sie faktisch die Anführer einer Erneuerung des japanischen Kinos hinsichtlich seiner Formen und Herausforderungen, aber auch seiner Industrie. Bei ihnen wird alles verdoppelt, dupliziert und vermehrt. Alles dreht sich um die Explosion der Massenmedien und ihren Bilderhagel, auf die Konsumgesellschaft und ihre am Fließband produzierte Künstlichkeit. Und doch sind ihre Aussagen sehr unterschiedlich. (…). [In] Passion ardente (…) hinterfragt Yoshida die Macht der Bilder: die Verfremdung, die sie bewirken, ihre emanzipatorischen Kräfte – ihre Art und Weise, immer wieder verfehlte Begegnungen zwischen den Wesen zu arrangieren.“

Dieses Begleitheft präsentiert, wie schon die beiden vorherigen, eine Auswahl an Werken, die nicht in der Ausstellung zu finden sind. Die Künstler wurden um ausschließlich textuelle Werke gebeten und haben verschiedenste Elemente zu einem heterogenen Gesamttext vereint, der polyphone Lesarten ermöglicht und keine (passive) Betrachtungshaltung mehr bedient, sondern einen (aktiven) Lesakt provoziert.

So wird die Decodierung eines Textes gleichgesetzt mit der Decodierung der Welt – und dem Besuch einer Ausstellung. Es geht nicht mehr um die Suche nach einem zuvor festgelegten Sinn, sondern um heterogene Elemente, die erst bei ihrer – immer wieder einzigartigen – Durchquerung ihren Sinn bekommen.

Die Ausstellungen des Doppelgänger-Zyklus fragen immer wieder nach der Tragweite der subjektiven Schreibweise: nach der Schreibweise des Ich in seinem eigenen Innern (Les Séparés mit Pasolinis Petrolio), nach der Behauptung des eigenen Selbst unter den sozialen und politischen Bedingungen seiner Zeit (The Souls, a twice-told tale mit Dubois) und schließlich in einem Knäuel historischen Gestammels (Le Paravent de Salses, Georgica von Claude Simon).

Vielleicht existieren sie nur, um zu jener Einsicht zu führen, die Claude Simon in seinem handgeschriebenen Vorwort zu Der blinde Orion so schön formuliert: Dass die Welt nach und nach entsteht, indem uns an ihr reiben und sie schließlich hervorbringen – und dass sie, während sie so Form annimmt, zugleich uns selbst gestaltet.

Paradoxerweise müssen wir bekennen, dass wir, wenn wir unter Zerrissenheit leiden, letztlich eins sind mit der Welt.

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